Nicht das zu bekommen, was man eigentlich wollte, kann sich nachträglich manchmal als Segen herausstellen: Vom Leben auf diese Weise beschenkt wurde ich auf dem Kirchentag, als ich mich, wegen Überfüllung einer Veranstaltung, die ich eigentlich besuchen wollte, plötzlich damit konfrontiert sah, meine Zeit mit etwas anderem Sinnvollen zu füllen. In dieser Situation stolperte ich über den Auftritt eines absolut sehenswerten Kunstprojektes, das ich euch hier vorstellen möchte:
Die Wiedmann Bibel
Mit ihr schuf der Künstler Willy Wiedmann[1] (1929–2013) ein monumentales Werk, das auf dem Kirchentag zum ersten Mal der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Atemberaubend sind bereits seine Rahmendaten:
16 Jahre, von 1984 bis 2013, arbeitete Wiedmann an den auf 19 Bildbände(r) verteilten 3.333 Bilder seines Lebenswerkes. Mit einer Seitenlänge pro Bild von 49,5 cm ergibt sich damit eine Länge des Gesamtkunstwerkes von 1,666 km. Diese Rechnung ist deshalb angebracht, weil Wiedmann das einzige existierende Exemplar seiner Bibel als Leporello gebunden hat, so dass 19 tatsächliche Bildbänder mit im Schnitt knapp 90 m Länge entstanden sind. Diese 19 Bände der Wiedmann Bibel umfassen nahezu alle biblischen Bücher (einzig 1-2 Chr fehlen) und sogar einige Apokryphen.[2]
Von anderen Künstlerbibel unterscheidet sich die Wiedmann Bibel auch darin, dass sie auf jeden Text verzichtet: Sie liefert nicht hier oder da mal ein Bild als Beiwerk zum Text. Die Wiedmann Bibel besteht ausschließlich aus ineinander übergehenden Bildern (und Collagen), die für sich selbst wirken sollen – und wirken können! In ihnen deutet und erweckt Wiedmann die (Text-)Welt der Bibel Kapitel für Kapitel – manchmal sogar Vers für Vers – auf ganz eigenwillige Weise zum Leben. Das kann am besten anhand von Bildern aus der Wiedmann Bibel selbst veranschaulicht werden (Tipp: Nutzt dazu die Vergrößerungsoption, indem ihr auf die Bilder klickt und dann durch Klicken und Ziehen den Ausschnitt bewegt).
Analog den Ideen von Armenbibeln, Kirchenmalerei und Kirchenfenstern im Mittelalter war es Wiedmanns erklärtes Ziel, besonders lese- und lernschwachen Menschen durch seine Bilder einen Zugang zur Bibel zu ermöglichen. Doch nicht nur für Menschen, denen Textwelten nur schwer zugänglich sind oder sogar ganz verschlossen bleiben müssen, ist die künstlerische Deutung des Bibeltextes in Wiedmanns Bildern aufschlussreich. Auch für Theologinnen und Theologen eröffnet sie m.E. neue Perspektiven auf die Bibel, als dem uns vermeintlich so wohlvertrautem Buch und auf ihren altbekannten Stoff. So liefert die Wiedmann Bibel sicherlich Anregungen für den Diskurs zwischen den theologischen Disziplinen, aber auch für den Dialog zwischen Kunst(geschichte) und Theologie. Wiedmanns Anspruch, eine vollständige Darstellung der Bibel „aus einer Feder“ zu bieten, kommt dabei dem wissenschaftlichen Interesse an Vergleichbarkeit, Systematisierung und Vollständigkeit weiter entgegen, als es in vielen Kunstprojekten sonst der Fall ist. Aufgrund ihres Darstellungsreichtums, aber auch durch Wiedmanns Stil bietet die Wiedmann Bibel auch für Gemeindearbeit/-pädagogik, Schulunterricht oder für Bildbetrachtungen in Predigten und Andachten ein hohes Potential, das es wert ist, von Theologinnen und Theologen erkundet und gehoben zu werden. Auch hiervon möge die Betrachtung folgenden Ausschnitts aus der Wiedmann Bibel überzeugen:

Wiedmanns Darstellungsweise ist wohltuend zeitgemäß: Sein Stil ist einerseits figürlich genug, um die narrative Dimension der Bibeltexte zur Darstellung zu bringen, deren Bedeutung für das Glaubensleben in den letzten Jahren von der Theologie immer deutlicher herausgestellt worden ist. Andererseits bleibt Wiedmanns Stil auch bei seinen Figuren abstrakt und verfremdet diese in ihrer Naivität durch eine Eckigkeit in der Darstellung. Das sorgt dafür, dass die Figuren und das von ihnen erzählte Schicksal nicht verharmlost werden, wie es in den m.E. oft zu harmonischen, warmrunden Formen mancher naiver Künstler der Fall ist. Seine Figuren sind erfreulicherweise zu abstrakt und kantig, um ein rundlich-fröhliches Gartenzwergidyll zu kreieren.
Trotzdem ist es Wiedmann oft gelungen, mit wenigen aber klaren Linien seinen Figuren
eindrückliche und expressive Gesichtszüge und Körperhaltungen zu verleihen, die auf ihre Weise dazu in der Lage sind, beim Betrachter Empathie zu wecken. Das wird etwa an der Darstellung von Daniels Bußgebet (Dan 9) deutlich (links) – oder an der Szene von der Steinigung der Ehebrecherin (rechts).
Unter der Überschrift „Die Ehebrecherin“ stellt Wiedmann Jesu Intervention bei der Steinigung einer Frau dar: Im Hintergrund der grob-felsige Steinbruch, der im Vordergrund in die Sandfläche ausläuft, in die hinein Jesus zunächst mit einem Stock Zeichen zieht. Die „Ehebrecherin“ ist knallbunt-lebensfroh wie ein Bonbon dargestellt (deshalb vielleicht auch der Rock aus Maoam-Papier,[6] das ein Muster aus Ananas-Formen und der Aufschrift „Mamba“ aufweist) und mit anscheinend üppigem, tief ausgeschnittenem Dekolleté. Jesus steht unten rechts in hoch aufragender ehrfurchtgebietender Gestalt an/auf ihrer Seite und hat seinen Arm Einhalt fordernd erhoben. Im Hintergrund abgebildet sind die „kleingeistigen“ und engstirnigen Männer, die die Frau steinigen wollen: Sie haben die Arme bereits zum Wurf erhoben und Wiedmann hat ihre Körper – vielleicht in einem Anflug von „pictorial justice“ – etwa so groß dargestellt, wie man wohl ihre Geisteskraft erwarten darf.
In dieser eckig-ungelenk wirkenden Darstellungsweise seiner Figuren schlägt sich der von Wiedmann entwickelte Stil der Polykonmalerei nieder.[7]: Dass er teilweise an die verpixelte Grafik eines Computerspiels aus der alten, vermehrt analogen Zeit erinnert, lässt die von Wiedmann dargestellten Personen zu Bildern für den spät- bzw. postmodernen Menschen werden, der seine Existenz als gebrochen, „verkracht“ oder wenigstens fragmentarisch auffasst.
Die Szene darüber stellt zwar der Bildunterschrift zufolge (Marias Begegnung mit?) Elisabeth dar – und auch die fleischfarbenen Buchstaben dort, wo man den „verpixelten“ Leib der Frau, deren Kopf schräg darüber dargestellt ist, erwarten würde, bilden den Namen „Elisabeth“. M.E. liegt es aber näher, dieses Bild als fantasievolle Darstellung des Kommens des Heiligen Geistes über Maria zu deuten: Dieser ist hier nicht nur in weißen Tauben präsent, sondern in origamiähnlichen Vögeln, die bunt wie Schmetterlinge (im Bauch von Verliebten) sind. Zudem ist die gezeigte Frau (Maria?) dezidiert nackt: Das zeigt nicht nur die Fleischfarbigkeit der verpixelnden Felder, sondern ist zusätzlich sowohl an den beiden deutlich sichtbaren Brüsten abzulesen. Und dass der gnädig und geheimnisvoll durch Dreiecke(!) zensierte Bereich tatsächlich den Empfängnisakt verbirgt ist durch das gut erkennbare männliche Genital im linken unteren Teil der hautfarbenen Bildpartie angedeutet. Auf die Darstellung des Empfängnisaktes in flagranti weist zudem die „wuschige“ Frisur der Frau hin. Die Präsenz Gottes in diesem eigentlich profanen Geschehen wird zusätzlich durch Gesicht und Flügel des Engels und Gottesmannes Gabriel, der sich rechts neben dem Frauenkopf im Anflug auf (die mögliche) Maria befindet, dargestellt. – Der Eindruck, dass in diesem Bild Marias jungfräuliche Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist angedeutet wird, wird zudem dadurch bestärkt, dass die groben, naturbelassenen und mit Spinnenweben bedeckten Holzbretter genau unterhalb des Zentrums des unterstellten göttlichen Empfängnisaktes plötzlich weiß und ganz rein von Spinnenweben fortgeführt werden!
Hierauf folgt die befremdlichste Szene der gesamten Darstellung: Eine Frau – vermutlich Maria – hockt auf einer Blumenwiese, umgeben von zwei Pegasoi (?), zu ihren Füßen anscheinend ein Lamm. Fische und eine Katze sind auch zu sehen. Besonders interessant ist, dass auch hier nochmal weiße Vögel (Tauben?) auftauchen, die besonders auffällig an aus Papier gefaltete Origami-Tauben[10] erinnern. Die ganze Darstellung ist mit „Marienleben“ überschrieben. Aber selbst zu den traditionellen Stationen eines außerbiblischen Marienzyklus passt die Darstellung in keiner Weise – und in den Evangelien taucht die Stelle gar nicht auf. Hier liegt uns einer der ganz seltenen Fälle vor, in denen sich Wiedmann nicht an eine Vorgabe aus der Bibel hält.[11] Mir erscheint es sinnvoll, diese Szene entweder als Erweiterung der davor abgehandelten Empfängnis zu verstehen oder als Ausschmückung zu Gabriels Verkündigung, die m.E. von Wiedmann im rechten Teil des Bildausschnitts mit der Botschaft des Magnifikat zu der anrührenden Szene zwischen Maria und Gabriel vereinigt worden ist und lauter Geborgenheit, Vertrautheit, Ruhe und Halt (Hände!) atmet.
Diese Eckig- und Kantigkeit ist Folge von Wiedmanns Konzept der Polykonmalerei (von πολύς [gr. „viel“] und εἰκών [gr. „Bild“]), bei der eine Fläche mithilfe einer bestimmten Vorgehensweise in i.d.R. eckige geometrische Formen aufgeteilt wird, „die sich gegenseitig ergänzen, überlagern oder in sich verflochten sind. Bei der Gesamtkomposition werden aus den Formen Bilder, die wiederum zu Bildern werden bzw. in andere Bilder übergehen usw.“[12] Das so entstandene Bildergefüge ruft unwillkürlich die Assoziation von einem durchkomponierten (modernen) Kirchenfenster hervor.[13] Der Effekt, den diese Vorgehensweise birgt, ist ganz beachtlich: Bei der Betrachtung entfalten die Arrangements der Bildkomposition durch Interaktion miteinander eine Eigendynamik und Tiefendimension, die bei jedem neuen Blick immer neue Details „zu Tage“ bzw. in den Vordergrund treten lassen. Dadurch werden beim Betrachter immer neue Assoziationen wachgerufen, so dass ein buntes Emergieren und Transzendieren von Formen, Details, Bedeutung entsteht. Strukturell bildet dieser Effekt m.E. auf der Ebene von Bild und Betrachter das Pendant zur dogmatischen Figur des „Wortes Gottes“, mit dem theologisch der hermeneutische Prozess gefasst wird, in dem die Textwelt der Bibel immer wieder in das Leben ihrer Leser und Hörer hineinspricht. Der Effekt des Emergierens und Transzendierens soll an der Betrachtung des folgenden Bildbands deutlich gemacht werden:
Die Szene der Fußwaschung (Joh 13,1-20) ist dem Abendmahl (Mk 14,12-25) in diesem Bilderfries als Folgeepisode beigeordnet: Hier sehen wir, wie Wiedmann bei seinem Projekt einer Evangelienharmonie im Band „Jesus Christus“ seiner Bilderbibel verfährt. Er bringt verschiedene Szenen aus unterschiedlichen Evangelien in eine gemeinsame lineare und damit (anders geht es in der Bildbänderdarstellung nicht!) in eine chronologische Reihenfolge. Bei der Szene der Fußwaschung ist interessant, dass Jesus hier – wie in großen Teilen von Wiedmanns Evangelien-Bildern – blondes(!) Haar hat! Das ist ungewöhnlich und entspricht nicht den üblichen Jesusdarstellungen und weckt tragischer Weise Anklänge an das Jesusbild der Deutschen Christen! Es fällt außerdem auf, dass Judas – hier in der für seine Darstellung von Wiedmann durchgehaltenen gelb-grünen Kleidung (Analogie zur Kleidung Sauls im Bild oben, der ebenfalls persona non grata ist!) – seine Füße neben dem Wassertrog abgestellt hat, ihm also anscheinend nicht die Füße gewaschen werden (vielleicht wegen Joh 13,10f.: „Spricht Jesus zu ihm: Wer gewaschen ist, bedarf nichts, als dass ihm die Füße gewaschen werden; denn er ist ganz rein. Und ihr seid rein, aber nicht alle. Denn er kannte seinen Verräter; darum sprach er: Ihr seid nicht alle rein.“).
Im Vergleich mit der Abendmahlsszene fällt außerdem auf, dass das Umfeld hier nicht mehr wirkt, als sei es handwerklich bearbeitet: Die braune Umkleidung der Abendmahlsszene hat etwas von einer Holzvertäfelung und im Hintergrund sind so etwas wie drei Sprossen- oder Radfenster zu erkennen. Es handelt sich hier an- scheinend um den in Mk 14,15 erwähnten vornehmen (weil mit Polstern ausgestatteten) Saal, in dem Jesus das Passamahl mit seinen Jüngern feiern möchte. Die Szene der Fußwaschung findet hingegen vor einem Hinter- grund statt, der den Eindruck einer Höhlenwand macht. Auch die faltig-eckige Art eines Aufbruchs, durch den man in den Fels hinein und auf diese Szene schaut, erinnert etwas an die Öffnungen der Höhle (lat. „spelunca“/ gr. „spelygx“) in der die Orthodoxie die Weihnachtsszene der Geburt Christi darstellt. Sie steht für die Niedrigkeit, in die sich Gott in der Inkarnation begibt, indem er zu einem wehrlosen, in schmuddeligem Heu einer Futterkrippe liegenden Kleinkind wird. Niedrigkeit ist auch hier bei der Fußwaschung ein Motiv. So heißt es in Joh 13,12-15: „Wisst ihr, was ich euch getan habe? Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit Recht, denn ich bin’s auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr und der Apostel nicht größer als der, der ihn gesandt hat.“ – Und doch wäscht Jesus, der Meister, seinen Knechten die Füße: Verkehrte Welt. „Er wird ein Knecht und ich sein Herr, das mag ein Wechsel sein“ heißt es im Weihnachtslied „Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich“. Genau das drückt Wiedmann hier aus. Ob er auf die Darstellung der orthodoxen Weihnachtsszene Bezug nimmt, ist leider nicht sicher zu sagen. Möglich ist es aber.
Noch spannender ist, dass diese schroffe Umgebung, in die die Fußwaschung eingebettet ist, plötzlich in das (hier nicht blonde!) Haar Jesu übergeht. Damit wirkt es, als ereigne sich die Fußwaschung in Jesu Kopf, bildete also den Kern seiner Gedanken, stellt sich damit plötzlich als Idee und Konzept hinter der Verkündigung Jesu heraus, als was sie in Joh ja auch wirklich betrachtet werden kann. Zugleich ist sie so Teil Jesu Christi – der in theologischer Sicht in Joh selbst Inhalt seiner Verkündigung ist. Ergreifend ist auch, dass die darauffolgende „Nahaufnahme“ von Jesu Gesicht völlig abstrakt gehalten ist (analog dazu die Gesichter der Jünger hinter ihm). Allein im Gesichtsausschnitt des Jüngers, „den Jesus lieb hatte“ und „der bei Tisch an der Brust Jesu lag“ (Joh 13,23) erblickt man die Tränen der Trauer als Reaktion auf Jesu Worte über den Verräter am Tisch. Im Kontrast dazu steht die wahnsinnige Mimik des rot gehörnten, schon vom Teufel ergriffenen (vgl. Joh 13,2) Judas, dessen Augen entgeistert und mit wirrem Blick umherstieren (Pupillen und Iris bilden übrigens das bekannte mehr-/dreirahmige Dreieck der Gotteswirkung). Seine Lippen sind blau – das sind sie übrigens auch noch am Ende unsere Sequenz, bei der Judas Jesus mit blauen Lippen (also „eiskalt“) mit dem Zeichen der Liebe verrät. Vor Judas, der hier zum Ebenbild des Teufels(!) geworden ist, steht die verräterische Schale, in die die auffällig naturalistische (!, also menschliche) Hand Jesu das Brot taucht. Zwischen Judasportrait und Judaskuss findet sich noch die Andeutung eines Hahnenkopfes als Zeichen für die Ankündigung der Verleugnung durch Petrus und der in Finsternis liegende Garten Gethsemane, in dem die Äste der Bäume schwarz in die Nacht hineinragen. Links davon (unter dem Hahnenkopf) erkennt man in der Ferne die schlafende Stadt Jerusalem. Nur die stumm dastehende Silhouette Jesu ragt im Garten auf. Die drei Jünger, die er mitgenommen hat liegen in tiefen Schlaf gesunken aufeinander gestützt oder aneinander gekuschelt am rechten unteren Bildrand. Jesus selbst betet – evangeliumsgemäß (vgl. Mk 14,32-41) – dreimal in der Mitte des Bildes. Dem Kelch, der an ihm vorbeigehen möge, und dem möglicherweise im senkrecht vom Himmel kommenden Strahl sich ausdrückenden Willen Gottes, der geschehen soll (vgl. Mk 14,36), beugt sich Jesus in dieser Darstellung wortwörtlich, in dem er dreimal zu Boden geworfen dargestellt wird (trinitarisch?).
Aufgrund ihrer monumentalen Dimensionen ist es bis zum Tod von Willy Wiedmann nicht möglich gewesen, die Wiedmann Bibel zu vervielfältigen: Eine Reproduktion überstiege außerdem die finanziellen Möglichkeiten der meisten Interessierten. Einzig vom Band Genesis existiert deshalb ein Faksimile, das den Menschen auf dem Kirchentag zum Blättern zugänglich gemacht wurde. Doch das heißt nicht, dass man die Wiedmann Bibel nur an einem einzigen Ort der Welt in irgendeinem abseits gelegenen Museum zu Gesicht bekommt. Denn da Wiedmann mit der Gestaltung seiner Bibel den Wunsch verband, diesen künstlerischen Zugang für möglichst viele Menschen fruchtbar werden zu lassen, haben sich seine Kinder nach Wiedmanns Tod seines Werkes angenommen und dafür gesorgt, dass es mit Hilfe moderner Technik digitalisiert und so aufbereitet wurde, dass es nun über die modernen Kommunikationsmedien zugänglich ist: So kann die Wiedmann Bibel unter der gleichnamigen Web-Adresse (www.diewiedmannbibel.de) aufgerufen werden oder als App oder DVD erworben werden. Dabei sind bis zu 280 Bilder kostenlos einsehbar. Wer mehr sehen möchte, kann eine personalisierte Lizenz erwerben, die einmalig weniger als 5 € kostet und ein Einloggen online von jedem Gerät aus ermöglicht. Bei 5 € für 3.333 Bildern entspricht das dem Bruchteil eines Cents pro Bild! Dieser Preis scheint mir mehr als fair. Da außerdem ein Teil der Einnahmen an Hilfsprojekte gespendet wird, verbietet es sich m.E. aus Anstandsgründen, eine Umgehung dieser minimalen Lizenzgebühr auszutüfteln!
Zusätzlich zum Bildband der Wiedmann Bibel sind in dem Onlineauftritt auch die handschriftlichen Notizen Wiedmanns zu jedem Bild als abgetippte Untertitel abrufbar. Das Bildband lässt sich entweder manuell vorwärts (und rückwärts) bewegen oder es verschiebt sich über eine Play-Funktion in einstellbaren Zeitabständen automatisch „in Fahrtrichtung“. Es besteht im Menü auch die Möglichkeit, einzelne Motive zu markieren und als Print (Poster, Puzzle, Tasse, T-Shirt etc.) zu ordern. Außerdem kann man die Bücher gesondert aufrufen und in einer Miniatursicht nach der gesuchten Stelle im jeweiligen Bildband suchen oder einen in Über- und Unterschriften gelisteten Begriff (z.B. Namen biblischer Figuren) in die Suchfunktion eingeben, um alle damit verknüpften Bilder angezeigt zu bekommen. So zugänglich gemacht und mit diesen Tools ausgestattet, ist die Onlinepräsenz der Wiedmann Bibel m.E. ideal aufgearbeitet, um nun theologisch erschlossen und in der Arbeit in Gemeinden, an Schulen und Universitäten genutzt zu werden. Lasst euch herzlich zu dieser ästhetisch und theologisch ansprechenden Entdeckungsreise einladen!
- Für mehr Informationen zu Willy Wiedmann vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Willy_Wiedmann. ↩
- Die 19 Bände sind folgendermaßen aufgeteilt: 1: Gen, 2: Ex, 3: Lev, 4: Num, 5: Dtn, 6: Jos/Ri/Rut, 7: 1-2 Sam, 8: 1-2 Kg, 9: Esra/Neh, 10: Tob/Jdt/Est, 11: Ijob, 12: Ps, 13: Spr/Koh/Hld/Weisheit, 14: Sir, 15: „Propheten“ (Jes/Jer/Klgl/Ez/Dan/XII), 16: „Jesus Christus“ (Mt/Mk/Lk/Joh), 17: Apg, 18: „Epistulae“ (Röm/1-2 Kor/Gal/Eph/Phil/Kol/1-2 Thess/1-2 Tim/Tit/Phlm/Hebr/1-2 Petr/ 1-3 Joh/Jak/Jud), 19: Offb. ↩
- Es handelt sich um das einzige der hier gezeigten acht Bildausschnitte aus der Wiedmann Bibel, das auch frei im Internet zu finden ist. Alle anderen Bilder wurden exklusiv für die Berichterstattung hier zur Verfügung gestellt. ↩
- So stellt Wiedmann nach meiner Beobachtung anscheinend auch an anderen Stellen den existentiell betroffenen, in seiner Existenz gefährdeten Menschen dar (meist als Masse im Plural, so etwa auch das Publikum/Volk, das Jesu Reden hört). ↩
- Das gilt jedenfalls für Ex, hält sich für Lev, Num und Dtn aber nicht durch. Diese sind aber auch nicht als erzählte Geschichten-Bildbänder konzipiert. Das Erscheinungsbild geschichtlicher Protagonisten wie Saul, David, Salomo und Jesus wird allerdings durchgehalten. Manchmal hat man jedoch (nicht nur bei Jesus) den faszinierenden Eindruck, dass die Charaktere nach und nach altern. ↩
- Herzlichen Dank an Vikar Tobias Schreiber in Kastellaun, der diese Erkenntnis beisteuerte! ↩
- Für weitere Informationen zur Polykonmalerei vgl. http://de.encyclopaedia.wikia.com/wiki/Polykonmalerei. ↩
- Durch seine blaue Kleidung und seinen Hut entspricht er übrigens Wiedmanns Noah-Typus, was auch zur hier wie dort (Arche!) auftauchenden Holzmaserung passt. ↩
- Seltsamerweise besitzt er sechs Finger (zwei Daumen?), wie auch Samuel im Bildfries oben. Was das zu bedeuten hat, konnte ich bisher noch nicht entschlüsseln. ↩
- Dieses Bild verwendet Wiedmann übrigens auch im Bereich der Episteln (Bd. 18) und in Abwandlung bei der babylonischen Sprachverwirrung (Bd. 1)! ↩
- Bisher habe ich nur noch eine weitere Passage zwischen der zweiten Schöpfungserzählung und dem Sündenfall (Bd. 1) gefunden, für die das auch der Fall ist. ↩
- http://de.encyclopaedia.wikia.com/wiki/Polykonmalerei. – Tatsächlich lässt sich bei dieser Vorgehensweise und in Anbetracht ihres Ergebnisses von „Komposition(en)“ sprechen. Wiedmann studierte zudem für einige Zeit Musik und brachte die dort erworbenen Kenntnisse in seine Malerei mit ein. 1995 setzte er etwa das Orgelwerk von Dietrich Buxtehude in Malerei um (vgl. PDF „Wiedmann in Zahlen – Fact Sheet“ aus dem Presse-Kit des Onlineauftritts diewiedmannbibel.de). ↩
- Auch hier ist es aufschlussreich zu erfahren, dass Wiedmann seine Bibel in der Folge der Ausgestaltung des Kirchraumes der Pauluskirche im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen begonnen hat und bei der Gestaltung eines Kirchenfensters in der Martinskirche in Wildberg beteiligt war. Er hat sich also auch explizit in diesem Bereich betätigt. Das unterstützt die oben bereits angedeutete Parallele zum Konzept mittelalterlicher Kirchraumausgestaltung, Kirchenfenstern und Armenbibeln. ↩
Ein schöner und informativer Artikel! Vielen Dank, Dankel. Interessant finde ich deine Deutung der ausgestreckten Hand Samuels in Analogie zur Darstellung Johannes des Täufers auf dem Grünewald-Altar. Ganz ohne zu pöbeln bin ich mir aber nicht sicher, ob sie tatsächlich so vom Künstler beabsichtigt war: Immerhin *zeigt* Samuel ja nicht auf Saul, sondern auf eine Menschengruppe (das Volk Israel oder die Männer, mit denen Saul gemeinsam isst?). Vielleicht ist es eher eine Ausdeutung des biblischen „unter der Hand von jmd sein“ = über jemanden herrschen?
Lieber Gruß
Tobias
Das kann natürlich auch eine Überinterpretation sein. Das schöne ist ja, dass Bilder so hübsch deutungsoffen sind. Und du hast insoweit Recht, als dass Samuels Fingerkuppen nicht ausgestreckt sind. Dann könnte Samuels Geste tatsächlich seinen „Herrschaftsanspruch“ bis dato (dein „unter jemandes Fuchtel stehen“) veranschaulichen. Denn ohne König hatte – natürlich nur im Auftrag Gottes ;) – der Richter Samuel ja das Sagen. Man könnte ebenso fragen, ob damit nicht ausgedrückt ist, dass Samuel die „Sache“ mit der Königssalbung (mit dem Auftrag Gottes im Rücken) „nun selbst in die Hand“ nimmt. Höhe und Richtung von Samuels Handbewegung weisen im Übrigen gleichwohl (ja, bis auf die Fingerkuppen…) auf Saul hin: Der liegt nämlich direkt am Ende der Finger auf dem Dach des dort befindlichen Hauses und schläft (so wird es biblisch auch erzählt). – Und darauf folgt dann die Salbungsszene.